Morat, Valérie (2023): Das EWR-Recht als Teil der liechtensteinischen Rechtsordnung. Gamprin-Bendern (Arbeitspapiere Liechtenstein-Institut, 79).

Erscheinungsjahr:
2023
Autor/-in:
Band-Nummer:
79

Abstract
Das EWR-Recht ist für Liechtenstein von grosser Bedeutung und wirkt sich auf die gesamte Rechtsordnung aus. Aufgrund der dynamischen Weiterentwicklung des EWR-Abkommens werden laufend neue relevante EU-Rechtsakte in dessen Anhänge übernommen und werden wie auch das Abkommen selbst Teil des innerstaatlichen Rechts.

Das vorliegende Arbeitspapier beschäftigt sich mit der Geltung und Einordnung des EWR-Rechts in Liechtenstein aus innerstaatlicher Sicht. Der Fokus liegt dabei auf dem Verhältnis zwischen EWR-Recht und der Verfassung des Fürstentums Liechtenstein. Insbesondere wird der Frage nach dem Rang des EWR-Rechts im Stufenbau der liechtensteinischen Rechtsordnung nachgegangen.

Die Liechtensteinische Verfassung äussert sich nicht zur Geltung und zum Rang des EWR-Rechts. Eine Hierarchie der Rechtsquellen in Liechtenstein kann aus der Normenkontrollkompetenz des Staatsgerichtshofes nach Art. 104 Abs. 2 LV hergeleitet werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Kompetenz des StGH zur Überprüfung des EWR-Rechts am Massstab der Verfassung und eines daraus resultierenden Ranges der Verfassung über dem EWR-Recht. Eine Analyse von Lehre und Rechtsprechung in Liechtenstein zeigen, dass grundsätzlich vom Vorrang des EWR-Rechts gegenüber innerstaatlichem Recht ausgegangen wird. Obwohl mit der Verfassungsrevision von 2003 die Kompetenz des StGH zur Prüfung von Staatsverträgen auf ihre Verfassungsmässigkeit geschaffen wurde, überprüft der StGH auch nach 2003 EWR-Recht nicht am Massstab der Verfassung. Eine Ausnahme besteht gemäss Rechtsprechung des StGH allerdings dort, wo Grundprinzipien und Kerngehalte der Landesverfassung oder EMRK tangiert würden.

Eine weitere Frage betrifft die Überprüfbarkeit innerstaatlicher Rechtsnormen am Massstab des EWR-Rechts. Der StGH schloss in frühen Entscheiden regelmässig aus dem materiell verfassungsergänzenden Charakter des EWRA darauf, dass er seine Normenkontrollfunktion auch bezüglich der Übereinstimmung von innerstaatlichen Gesetzen mit dem EWR-Rechts wahrzunehmen hat. In diesem Zusammenhang und mit Blick auf die Rechtsfolgen der EWR-Rechtswidrigkeit von Gesetzesbestimmungen ergeben sich Probleme hinsichtlich der Vereinbarkeit der Normenkontrolle mit dem vom EuGH für das EU-Recht konstruierten Anwendungsvorrang. Letzterer bezweckt die vorrangige Anwendung des EU-Rechts vor allen innerstaatlichen Normen. Letztlich hat der StGH weder den Anwendungsvorrang verneint noch seine Zuständigkeit zur Normenkontrolle und Kassation im Falle einer EWR-Rechtswidrigkeit ausgeschlossen.

Schlagwörter: EWR-Recht; EWRA; Liechtensteinisches Verfassungsrecht; Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit des EWR-Rechts; Art. 104 Abs. 2 LV