Schiess, Patricia (2023): Das Sezessionsrecht der liechtensteinischen Gemeinden. Eine nicht umgesetzte Bestimmung der Verfassungsrevision von 2003. In: Jusletter 16. Januar 2023.

Erscheinungsjahr:
2023

Abstract
Dieser Beitrag analysiert den auf Initiative von Hans-Adam II. in die liechtensteinische Verfassung aufgenommenen Art. 4 Abs. 2 LV. Er gibt den Gemeinden das Recht, das Verfahren für das Verlassen des Staatsverbandes einzuleiten. Dieses Austrittsrecht war ein Element der vom Fürstenhaus initiierten Verfassungsrevision von 2003. Verglichen mit den übrigen Änderungen hatte es im Land wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Hans-Adam II. verfolgte mit der neuen Bestimmung aussenpolitische Ziele. Dargestellt werden in diesem Aufsatz seine Ausführungen zum Selbstbestimmungsrecht, die von ihm und der Regierung eingeholten Gutachten sowie die Opinion No. 227/2002 der Venedig-Kommission.

Die Untersuchung gelangt zum Schluss, dass Hans-Adam II. mit der Einführung dieses Rechts mit dem in der Konstitutionellen Verfassung von 1862 genannten Verfassungsgrundsatz («Das Fürstentum Liechtenstein bildet […] ein unteilbares und unveräusserliches Ganzes») brach. Die Einführung des Sezessionsrechts stand in einem Spannungsverhältnis zu der bei der Erbhuldigung abgegebenen Erklärung, die Integrität des Fürstentums zu erhalten. Unmittelbare Rechtswirkungen zeitigt Art. 4 Abs. 2 LV jedoch keine. Die Gemeinden wurden nicht gestärkt. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – der grossen Unterschiede zwischen den Gemeinden (insbesondere bezüglich Bevölkerungszahl und Gemeindefinanzen) sind keine Spaltungstendenzen zu erkennen.

Überdies illustriert dieser Beitrag Probleme, die sich ergeben können, wenn der Text eines Initiativbegehrens mehrmals geändert, aber nie in eine Vernehmlassung gegeben wird und wenn ein in der Verfassung verankertes politisches Recht keine Umsetzung im Gesetz erfährt. Es ist nämlich bis heute nicht klar, wer den ersten Schritt für die Einleitung des Austrittsverfahrens machen sollte.

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L'art. 4 al. 2 de la Constitution du Liechtenstein, formulé par le prince Hans-Adam II, prévoit depuis 2003 un droit de sécession des communes. Hans-Adam prétendait garantir le droit à l'autodétermination du Liechtenstein avec ce droit à la sécession. Des spécialistes du droit international ainsi que la Commission de Venise l'ont cependant contredit. Le droit de sécession des communes rompt en outre avec l'indivisibilité du pays, fondée sur le pacte familial de 1606 et confirmée par la Constitution de 1862. La présente contribution montre en outre les problèmes qui se posent du fait que le lancement de la procédure de sécession n'a pas été réglementé par une loi jusqu'à aujourd'hui. (Übersetzung des im «Jusletter» dem Text vorangestellten kurzen Abstracts durch Weblaw AG)

Schlagwörter: Sezessionsrecht, Verfassungsrevision von 2003, Konstitutionelle Verfassung, Völkerrecht, Gemeinden

Das Sezessionsrecht der liechtensteinischen Gemeinden, in: Jusletter 16. Januar 2023, jusletter.weblaw.ch.