Gamper, Anna (2021): Die liechtensteinische Verfassung im globalen und europäischen Verfassungsvergleich. In: Zeitschrift für öffentliches Recht (ZöR), 76 (2021), Heft 4, S. 1167–1194.

Erscheinungsjahr:
2021
Autor/-in:

Abstract
Nach einer formal-strukturellen Betrachtung entspricht die liechtensteinische Verfassung dem Mainstream nicht nur europäischer, sondern überhaupt aller geschriebenen Verfassungen der Welt. Sie ist zwar eine überdurchschnittlich alte Verfassung, jedoch insofern nicht unbeweglich, als sie unter keiner „Ewigkeitsklausel“ steht. Die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs trägt neben den nicht wenigen Verfassungsänderungen zu einer materiellen Verfassungsfortentwicklung bei. Betrachtet man die liechtensteinische Verfassung inhaltlich, so entspricht sie überwiegend dem Typus einer herkömmlichen westlichen Verfassung, jedoch mit Relativierungen: Eine davon betrifft die verfassungsrechtlichen Funktionen des Fürsten, die deutlich über diejenigen hinausgehen, die in parlamentarischen Monarchien üblich sind, gleichzeitig aber weder in Europa noch weltweit einzigartig sind. Eine demokratische Schranke erfährt die bedeutende Stellung des Fürsten außerdem durch die Letztentscheidungsbefugnis des Volks über eine Abschaffung der Monarchie, die diese auch selbst initiieren darf. Aber auch die Mikrostaatlichkeit Liechtensteins schlägt sich deutlich auf die Verfassung nieder und kommuniziert dabei mit anderen verfassungsrechtlichen Charakteristika, wie zB der überdurchschnittlich starken direkten Demokratie oder dem (beschränkten) „Sezessionsrecht“ von Gemeinden. Was die liechtensteinische Verfassung dabei international einzigartig macht, sind jedoch weniger diese Elemente im Einzelnen als vielmehr ihre bemerkenswerte Kombination.

Schlüsselwörter: Demokratie, direkte; Fürst; Gemeinden, Grundrechtsinterpretation; Liechtenstein; Mikrostaat; Monarchie; Regierungsform; Sezession; Staatsform; Staatsgerichtshof; Verfassung, geschriebene; Verfassung, inkorporierte; Verfassung, liechtensteinische; Verfassung, Monaco; Verfassungsänderung; Verfassungsrichter; Verfassungsstaat, westlicher; Verfassungsvergleich

In terms of form and structure, the Constitution of Liechtenstein follows the mainstream of not only European constitutions, but all written constitutions worldwide. Even though the age of this Constitution is above average, it is, due to the absence of an “eternity clause”, not extremely rigid either. Apart from a number of formal constitutional amendments, also the case law of the Constitutional Court (Staatsgerichtshof) has contributed to a dynamic constitutional development. Substantively, the Constitution of Liechtenstein is mainly consistent with the traditional Western concept of constitutionalism, but not in all respects: the constitutional functions of the Prince go considerably beyond the powers of parliamentary monarchs, even though there are other examples of such powers both in- and outside Europe. Moreover, the powerful position of the Prince is democratically relativized by the people’s ultimate right to both initiate and decide on the abolition of the monarchy. The Constitution also strikingly reflects Liechtenstein’s microstate character, which interlocks with other constitutional elements such as the strong degree of direct democracy or the municipalities’ (limited) “right to secession”. However, the Constitution of Liechtenstein owes its international distinctiveness less to these individual elements than to their remarkable combination.

https://doi.org/10.33196/zoer202104116701