Was ist Rechtsgeschichte?

12.06.2019 - Gastkommentar
Gastbeitrag von Emanuel Schädler │ Das Recht ist eine spezifisch menschliche Errungenschaft, geschaffen um des Menschen willen. Die Rechtsgeschichte befasst sich mit den verschiedenen Ausprägungen des Rechts und seinem Wandel im Laufe der Zeit. Es ist ihre Aufgabe, in der Vergangenheit jene signifikanten Zusammenhänge aufzuspüren und aufzuzeigen, die uns Heutigen ein besseres Verständnis des Rechts und des dadurch normierten menschlichen Zusammenlebens verschaffen.
Der Rechtshistoriker ist Generalist wie Spezialist. Er ist Generalist, weil sein Arbeitsfeld sich von den frühstaatlichen Herrschaftsformen wie jenen im Alten Orient des 3. Jahrtausends v. Chr. (zum Beispiel mit dem berühmten Codex Hammurapi) bis in die jüngere Vergangenheit (beispielsweise bis zum Rechtsregime der DDR) erstreckt. Über die üblichen juristisch-disziplinären Grenzen hinweg umfasst es Staatsrecht, Strafrecht, Zivilrecht, Prozessrecht usw. allesamt. Zudem geht die Rechtsgeschichte an ihren Rändern fliessend in andere Wissenschaften über, beispielsweise über das mittelalterliche Kirchenrecht in die Theologie und Philosophie. Der Rechtshistoriker muss und will sich angesichts dessen nach den wissenschaftlichen Bedürfnissen und seinen Präferenzen spezialisieren. Er wird zum Fachmann beispielsweise für das Recht der altgriechischen Stadtstaaten, für die Deutsche Hanse oder für zivilprozessuale Kodifikationen des 19. Jahrhunderts. So erweist sich die Rechtsgeschichte also nicht nur als Fachgebiet, sondern geradezu als allgemeine Methode beziehungsweise Perspektive, die sich auf nahezu jeden rechtlichen Gegenstand anwenden lässt, um seine historische Dimension auszuleuchten.

Was leistet Rechtsgeschichte?
Die Besonderheit der Rechtsgeschichte liegt in dieser ihrer variablen Perspektive, je nachdem was für ein Erkenntnisinteresse sie verfolgt. Rechtsgeschichte ist demnach nicht gleich Rechtsgeschichte. Im Grossen wird fachlich eingeteilt in römische, germanistische (deutsche) und kanonistische (kirchliche) Rechtsgeschichte. Es gibt globale, regionale oder lokale Rechtsgeschichte. Es fragt zum Beispiel die Dogmengeschichte, wann und wie sich Grundsätze wie «pacta sunt servanda» (Vereinbarungen sind einzuhalten) gebildet und überliefert haben. Eine biografische Rechtsgeschichte hingegen wendet sich dem Einfluss von Schulen oder Persönlichkeiten auf das Recht zu. Die europäische Rechtsgeschichte sucht vergleichend nach europäischen Gemeinsamkeiten, die nationalen Rechtsgeschichten fahnden nach ihren jeweiligen Besonderheiten. Zahlreiche weitere rechtsgeschichtliche Ansätze liessen sich noch anführen. Rechtsgeschichte bleibt auch nicht gleich Rechtsgeschichte. Vertiefte Erkenntnisse zu einem Untersuchungsgegenstand ergeben sich nämlich nicht nur, wenn sich an diesem etwas verändert und sich neue Quellen auffinden. Vielmehr unterliegt die rechtsgeschichtliche Perspektive selbst einem zeitlichen Wandel. Unter neuen Blickwinkeln werden nicht selten etablierte Konsense umgestossen und neue geschaffen. Rechtsgeschichtliche Forschung gelangt so zwar nie zu einem endgültigen Ende, ebenso wenig wie das Recht selbst. Sie muss es aber auch nicht: Der Wert der Rechtsgeschichte liegt darin, dass ihre besondere Perspektive überhaupt eingenommen, gepflegt und weitergereicht wird, sodass sie fortlaufend zur kritischen Auseinandersetzung mit der Errungenschaft des Rechts beitragen kann.
  

Wozu liechtensteinische Rechtsgeschichte?
Die liechtensteinische Rechtsgeschichte eigens zu untersuchen, lohnt sich deshalb, weil sie zwar eingebettet in grössere europäische Entwicklungen verlief, dabei jedoch durchaus eigene Wendungen nahm, was sie zu einem Unikum macht. Das gilt vor allem für die liechtensteinische Verfassungsrechtsgeschichte, die mit der Verfassung von 1921 die einzigartige Staatsform des heutigen Fürstentums Liechtenstein hervorgebracht hat. Durch die Anbindung an Österreich im 19. Jahrhundert und an die Schweiz seit dem 20. Jahrhundert hat die liechtensteinische Rechtsordnung allmählich eine Gemengelage an rezipierten Normen ausgebildet, die zu Lücken und Brüchen führte, welche rechtshistorisch erklär-, versteh- und manchmal sogar behebbar sind. Die eigenständige liechtensteinische Rechtsprechung, insbesondere seit 1925 mit der systemprägenden Innovation eines Staatsgerichtshofes, ist bei der Rechtsanwendung dadurch von vornherein auch auf rechtsgeschichtliche Überlegungen angewiesen.

 

Kurzum: Das liechtensteinische Recht ist ein eigenes Biotop, das über Jahrhunderte hinweg einer Mischung besonderer Einflüsse wie Monarchie und Kleinstaatlichkeit ausgesetzt war und insgesamt starke Kontinuität aufweist. Diese und weitere Umstände gilt es deshalb insbesondere rechtshistorisch auszuleuchten, um das liechtensteinische Recht heute voll und ganz verstehen und mit ihm praktisch umgehen zu können.

Über den Verfasser
Emanuel Schädler ist Forschungsbeauftragter am Liechtenstein-Institut und Oberassistent am Institut für Rechtsgeschichte der Universität Bern.

Geschichte wozu? Eine Artikelserie des Liechtenstein-Instituts
Mit der Beitragsserie „Geschichte wozu?“ möchte das Liechtenstein-Institut die gesellschaftliche Bedeutung der Geschichte der Geschichtsforschung in ihren verschiedenen Facetten. Dieser Gastbeitrag erschien im Liechtensteiner Volksblatt vom 12. Juni 2019.