Neue Publikation: Die Volksinitiative im Vergleich

26.08.2021 - Neue Publikation
Im neuesten Heft des traditionsreichen Schweizerischen Zentralblatts für Staats- und Verwaltungsrecht (ZBl) findet sich eine rechtsvergleichende Abhandlung von Patricia Schiess vom Liechtenstein-Institut und ihrem Zürcher Kollegen Goran Seferovic über das Vorprüfungsverfahren bei Volksinitiativen.

In der Schweiz wird immer wieder Kritik daran geäussert, dass die Bundesversammlung, also das nationale Parlament, über die Gültigkeit von Volksinitiativen entscheidet, und zwar erst, nachdem 100’000 oder mehr Stimmberechtigte mit ihrer Unterschrift ihre Unterstützung für das Initiativbegehren bereits bekundet haben. Die beiden Juristen Goran Seferovic und Patricia Schiess stellen deshalb das Verfahren dar, das Volksinitiativen in Liechtenstein durchlaufen müssen, bevor die Initiantinnen und Initianten mit dem Sammeln der Unterschriften beginnen dürfen.

Das Vorprüfungsverfahren in Liechtenstein
Die Zulässigkeit eines Initiativbegehrens wird von der Regierung, dem Landtag und gegebenenfalls vom Staatsgerichtshof (StGH) überprüft. Bei der materiellen Prüfung entscheidet die Regierung – anders als über formelle und formale Mängel eines Initiativbegehrens – nicht selber, sondern sie stellt dem Landtag einen Antrag. Der Entscheid obliegt daraufhin dem Landtag. Erklärt er das Begehren für unzulässig und erheben die Initiantinnen und Initianten dagegen Beschwerde, nimmt der StGH in letzter Instanz die Prüfung des Initiativbegehrens auf Übereinstimmung mit der Verfassung und dem EWR-Recht vor.

Sind die erforderlichen Unterschriften gesammelt, werden sie von der Regierung nachgezählt. Die Regierung nimmt jedoch nicht inhaltlich Stellung zur Initiative. Diese Aufgabe kommt allein dem Landtag zu. Stimmt der Landtag einer Volksinitiative zu, gelangt diese nur noch dann zur Abstimmung durch das Volk, wenn von Gegnerinnen und Gegnern der Initiative Unterschriften gegen diesen Landtagsbeschluss gesammelt werden. Lehnt der Landtag eine Volksinitiative ab, muss sie hingegen zwingend den Stimmberechtigten vorgelegt werden.

Keine materielle Vorprüfung in der Schweiz
Goran Seferovic und Patricia Schiess stellen dieses Verfahren der Rechtslage in der Schweiz gegenüber. Dort kann einzig die Bundesversammlung (also das nationale Parlament) eine Volksinitiative oder einzelne Bestimmungen einer Volksinitiative für ungültig erklären, aber erst, nachdem die Initiantinnen und Initianten die erforderlichen 100’000 Unterschriften bereits gesammelt haben. Eine gerichtliche Überprüfung der Ungültigerklärung gibt es für eidgenössische Volksinitiativen nicht. Anders sieht es in den Kantonen aus. In den allermeisten Kantonen wird die Prüfung, ob ein kantonales Initiativbegehren mit höherrangigem Recht (also der Verfassung und völkerrechtlichen Normen) vereinbar ist, wie im Bund nach der Sammlung der Unterschriften vorgenommen. In den Kantonen St. Gallen und Waadt prüft nun aber seit einigen Jahren die Regierung die Initiativbegehren vor der Unterschriftensammlung. Ihr Entscheid kann von einem kantonalen Gericht überprüft werden.

Auch das Bundesgericht beschäftigt sich mit kantonalen Volksinitiativen, die von einem kantonalen Parlament oder eben der Kantonsregierung für ungültig erklärt worden sind. Generell lässt sich jedoch feststellen, dass der Bund und die Kantone ein grösseres Gewicht auf die politische Auseinandersetzung legen. Anders als der StGH ist das Bundesgericht nicht in erster Linie Hüter der Verfassung.

Kleine, aber wesentliche Unterschiede
Die beiden Autoren gelangen zum Schluss, dass das von der liechtensteinischen Verfassung und dem Volksrechtegesetz (VRG) vorgesehene Vorprüfungsverfahren nicht eins zu eins auf die Schweiz übertragen werden könnte. Zu gross sind die Unterschiede. Zu bedenken gilt es insbesondere, dass in Liechtenstein seit 1921 Gesetzesinitiativen zulässig sind. Sie auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung und dem EWR-Recht zu überprüfen, ist (politisch) weniger heikel, als es in der Schweiz wäre, Verfassungsinitiativen für ungültig zu erklären. Darüber hinaus hat die liechtensteinische Verfassung von 1921 mit dem StGH ein spezialisiertes Verfassungsgericht geschaffen, das bestens mit der abstrakten Normenkontrolle vertraut ist.

Der Aufsatz zeigt exemplarisch auf, dass die Volksinitiative in Liechtenstein und der Schweiz sehr wohl grosse Ähnlichkeiten aufweisen, im Detail jedoch entscheidende Unterschiede bestehen. Nicht zuletzt unterscheidet sich auch das Umfeld:

  • Gesetzes- und Verfassungsinitiative in Liechtenstein – Auf Ebene Bund nur Verfassungsinitiativen in der Schweiz
  • Überprüfung der durch den Landtag ausgesprochenen Ungültigkeit durch den StGH – Kein anfechtbarer Entscheid der Bundesversammlung
  • Unterschiedliche Stellung und unterschiedliches Rollenverständnis von StGH und Bundesgericht
  • Medienberichte über geplante Initiativbegehren bereits vor der Einreichung zur Vorprüfung bei der Regierung – Beginn der vertieften Auseinandersetzung mit einem Initiativbegehren in der Schweiz in der Regel erst nach der Unterschriftensammlung
  • Kurze Fristen für die Behandlung von Initiativbegehren in Liechtenstein – relativ lange Fristen in der Schweiz, weil sowohl der Bundesrat als auch die Bundesversammlung das Recht haben, einer Volksinitiative einen direkten oder indirekten Gegenvorschlag gegenüber zu stellen.

 

Einmal mehr hat ein vertiefter Rechtsvergleich zwischen den punkto direkter Demokratie sehr ähnlichen Rechtsordnungen von Liechtenstein und der Schweiz interessante Unterschiede zutage befördert. Er hilft, das je Besondere der liechtensteinischen und der schweizerischen Regelung besser zu verstehen.

Der Aufsatz ist nicht online zugänglich. Das Liechtenstein-Institut verfügt jedoch über gedruckte Exemplare.