Im Spiegel des Codex Iuris Canonici

12.05.2021 - Mitteilung
Am 6.5.2021 referierte Emanuel Schädler am Senioren-Kolleg Liechtenstein zum Thema «Das kanonische Recht im Spiegel des Codex Iuris Canonici von 1983 – Eine Einführung». Nebst den einführenden Bemerkungen zu Quellen, Literatur, Begriffen sowie einem Überblick über die Kirchenrechtsgeschichte wählte er einen Teil des Rechtsgebiets des Verkündigungsrechts (can. 747–755 CIC/1983) als eine Querschnittsmaterie, anhand derer sich anschaulich und beispielhaft zeigen lässt, wie einzelne Normen des heute geltenden Codex Iuris Canonici von 1983 im Wortlaut aussehen, theologisch fundiert werden und im Gesamtzusammenhang des Gesetzbuches wirken.

Über diese inhaltlichen Ausführungen spannte sich gedanklich ein Bogen, der einleitend anhob mit der bekannten Sohm’schen These von 1892 («Das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch.»), welche ein jedes Kirchenrecht, ganz besonders das katholische, zu einer triftigen Selbstrechtfertigung aufruft. Am anderen Ende des Bogens stand can. 1752 CIC/1983, die letzte Bestimmung mit den ausklingenden Worten des kirchlichen Gesetzbuches, welche für die Kirche «das Heil der Seelen» als «das oberste Gesetz» (suprema lex) bezeichnen.

Die inhaltlichen Ausführungen zum Verkündigungsrecht führten von der Anhaltung eines jeden Menschen zur Suche nach der Wahrheit in Gottesdingen (can. 748 § 1 CIC/1983) über die göttliche Offenbarung namentlich in der Bibel zum kirchlichen Lehramt in Sachen des Glaubens und der Sitten (can. 747 CIC/1983), prominent mit der aussergewöhnlichen, feierlichen und unfehlbaren Dogma-Verkündigung ex cathedra Petri durch den Papst (can. 749 § 1 CIC/1983). Dem gegenüber stehen spiegelbildlich die verschiedenen Formen des Gehorsams von Seiten der Gläubigen (can. 750 ff. CIC/1983) beziehungsweise des qualifizierten Ungehorsams in Form von Häresie, Apostasie und Schisma (can. 751 CIC/1983) samt zugehöriger Sanktionen (can. 1364 und 1371 CIC/1983). All diese heutigen Bestimmungen stehen unter den Vorgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 bis 1965) und greifen die Konzilstexte teilweise wörtlich auf. Ausnahmsweise reichen einzelne Vorschriften, beispielsweise jene zur päpstlichen Dogmen-Verkündigung, zum Ersten Vatikanischen Konzil (1869 bis 1870) zurück oder wurden durch besondere päpstliche Erlasse eingefügt. Im Codex Iuris Canonici von 1917, der dem heutigen Gesetzbuch von 1983 voranging, finden sich zum Teil auch schon ähnliche Bestimmungen wie heute. Nicht selten führt eine Spurensuche in gewissen Einzelheiten sogar zurück bis auf das Corpus Iuris Canonici, also jene Zusammenstellung von verschiedenen Sammlungen kanonisch-rechtsrelevanter Texte, deren erste das Decretum Gratiani von 1141 gewesen war und welche demnach das Geburtsjahr des klassischen kanonischen Rechts markiert. Aus all dem wird die besondere Kontinuität des kanonischen Rechts und dessen Denken in grossen zeitlichen Dimensionen ersichtlich, was sich heute aus dem Codex Iuris Canonici von 1983 unter Zuhilfenahme der entsprechenden Quellentexte wie in einem Spiegel («Rechtsspiegel») ablesen und zurückverfolgen lässt.

Wie der Referent im Ergebnis zusammenfasste, zeichnet sich das kanonische Recht im Codex Iuris Canonici von 1983 durch folgende Merkmale aus:

  • Eigenartigkeit – Aus staatlich-weltlicher Sicht weist das kanonische Recht als Recht sui generis viele ungewöhnliche Aspekte auf, durch die es aber gerade gesetzestechnisch lehrreich und rechtsvergleichend interessant wird.
  • Tiefe und Hintergrund – Die Bestimmungen sind jeweils mit weitreichenden historischen und theologischen Bezügen aufgeladen und stehen in einer überaus langen Tradition und Kontinuität.
  • Systematik und Konsistenz – Als ein einziges Gesetzbuch im Sinne einer Kodifikation regelt der Codex sämtliche kirchenrelevanten Angelegenheiten und daraus ergeben sich viele Zusammenhänge und Verweisungen.
  • Kombinatorik und Logik – Die Normen sind, ausgehend vom verbindlichen lateinischen Gesetzestext, variantenreich und minutiös gestaltet und dabei vielleicht noch ein wenig von der mittelalterlichen Scholastik angehaucht.
  • Hierarchie – Eine Kirche ist organisierte Religion und die katholische Weltkirche ein Wunderwerk der ausgeklügelten, jahrhundertealten Verwaltung, deren Hierarchie (wörtlich «heilige Herrschaft») vom Papst herab die Welt umspannt.
  • Flexibilität – Die Kirche in ihrer göttlichen Sendung darf unter Umständen von strikter Rechtsanwendung absehen und stattdessen Einzelfallgerechtigkeit üben (aequitas canonica, Epikie), weil sie die Rechtsunterworfenen nicht nur in ihrem äusseren Verhalten, sondern auch in ihrer inneren Gesinnung erfassen soll, namentlich zum Zweck des Seelenheils der Menschen. Nicht von ungefähr bezeichnen demnach – wie erwähnt – die letzten Worte der letzten Vorschrift des Codex Iuris Canonici von 1983 ausklingend «das Heil der Seelen» für die Kirche als «das oberste Gesetz» (suprema lex).

 

6.5.2021: Das kanonische Recht im Spiegel des Codex Iuris Canonici von 1983 

Handout

Ein Ritt durch Offenbarung, Ökumene und Unfehlbarkeit. Berichterstattung von Heribert Beck, Liechtensteiner Volksblatt, 8. Mai 2021