Eine Governance-Theorie des Kleinstaats

22.12.2020 - Neue Publikation
Zahlreiche Variablen können Auswirkungen auf die innerstaatliche Politik und Governance-Formen eines Regierungssystems haben. Eine solche Variable könnte auch die Grösse eines Staates sein. Dieser Frage geht Sebastian Wolf, Professor für Sozialwissenschaften an der Medical School Berlin und ehemaliger Forschungsbeauftragter am Liechtenstein-Institut, in einer kürzlich erschienenen Monografie nach.

Das Werk untersucht die Auswirkungen von Kleinstaatlichkeit auf politische Systeme vorranging aus einer theoretischen Perspektive. Nach der Klärung der Forschungsfrage und der Darstellung der zentralen Begriffe und Konzepte werden zahlreiche Annahmen zu den besonderen Merkmalen von Kleinstaaten in den Dimensionen polity, politics und policy herausgearbeitet und konkrete Thesen über Governance in Staaten von geringer Grösse präsentiert.

Auf der Polity-Dimension zählen dazu beispielsweise die Thesen, dass Kleinstaaten häufig ausländische bzw. benachbarte institutionelle Modelle rezipieren oder aussergewöhnliche Institutionenarrangements zu Zwecken der Identitätswahrung langfristig aufrechterhalten. Auf der Politics-Dimension wird vermutet, dass Kleinstaaten strukturell eine partizipativere Politik praktizieren als grössere Staaten oder dass breite Aufgabenportfolios, Rollenakkumulation und das Milizprinzip die politischen Prozesse in Kleinstaaten prägen. Beispiele für Thesen auf der Policy-Dimension sind schliesslich, dass sich Kleinstaaten einerseits durch sehr liberale und flexible Positionen sowie andererseits durch sehr konservative und unflexible policies auszeichnen sowie dass die internationale Verrechtlichung Kleinstaaten zur Souveränitätssicherung dient, selbst wenn damit Regulierungsnischen verloren gehen.

In seinem Buch wendet Sebastian Wolf seine Überlegungen exemplarisch auf das politische System Liechtensteins an. Die Ausführungen zu Liechtenstein haben zwar keinen Anspruch, das politische System Liechtensteins zu erklären, bieten aber dennoch interessante Einblicke. Mit Blick auf den Versuch einer Governance-Theorie des Kleinstaats zeigt sich, dass Kleinstaatlichkeit in der Regel eine unscharfe, nicht deterministische Variable darstellt. Anders ausgedrückt, die Kleinstaatlichkeit ist nur selten eine (allein) notwendige und ausreichende Variable zur Erklärung eines bestimmten politischen Phänomens in Liechtenstein. Dennoch bleibt die Kleinstaatlichkeit ein Wesensmerkmal der Politik Liechtensteins und damit Gegenstand weiterer Forschung.